Die Praxis der Gefälligkeitskrankschreibungen stellt in der modernen Arbeitswelt ein zunehmendes Problem dar – nicht nur für das Gesundheitssystem und Arbeitgeber, sondern insbesondere für die Betroffenen selbst. Was auf den ersten Blick als harmlose Gefälligkeit erscheint, kann weitreichende Konsequenzen für die
persönliche Absicherung haben, vor allem im Bereich der privaten
Einkommenssicherung und Krankenversicherung.
Die Problematik der falschen Diagnosen im Zeitalter der elektronischen
Patientenakte
Mit der bundesweiten Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) ab Januar 2025 gewinnt die Problematik der Gefälligkeitskrankschreibungen eine neue Dimension. Die ePA macht Diagnosen und Behandlungen für alle behandelnden Ärzte sowie die Krankenkassen transparent und dauerhaft nachvollziehbar. Falsche
Diagnosen werden damit noch weitreichendere Konsequenzen haben als bisher.
Wenn Ärzte auf Wunsch von Patienten Krankschreibungen ausstellen und dabei Diagnosen dokumentieren, die nicht der Realität entsprechen, entsteht ein folgenschwerer Eintrag in der Krankenakte. Diese Diagnosen werden in den elektronischen Patientenakten gespeichert und sind damit Teil der offiziellen medizinischen Dokumentation. Das Problem: Diese Einträge lassen sich nachträglich kaum oder gar nicht korrigieren, selbst wenn sie auf einer Gefälligkeitskrankschreibung basieren.
Besonderheiten der elektronischen Patientenakte
Die ePA speichert systematisch alle medizinischen Informationen:
• Diagnosen und Behandlungen
• Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
• Medikamentenverschreibungen
• Überweisungen und Einweisungen
• Behandlungsberichte und Befunde
Diese Daten sind nicht mehr nur lokal beim Hausarzt gespeichert, sondern stehen dem gesamten Gesundheitssystem zur Verfügung. Einmal dokumentierte Diagnosen werden damit Teil einer lebenslangen digitalen Krankenhistorie.
Besonders problematisch wird es, wenn für die Krankschreibung schwerwiegendere Diagnosen gewählt werden, um eine längere Arbeitsunfähigkeit zu rechtfertigen. Häufig werden dabei psychische Erkrankungen, Rückenleiden oder andere schwer objektiv nachweisbare Beschwerden dokumentiert. Diese Diagnosen bleiben dauerhaft in der Krankenakte bestehen und können später zu erheblichen Schwierigkeiten führen.
Verschärfte Dokumentationspflicht
Die standardisierte digitale Erfassung in der ePA erfordert eine präzisere Dokumentation als früher. Ärzte müssen Diagnosen nach international einheitlichen Klassifikationssystemen (ICD-Codes) erfassen. Dies erschwert die spätere Korrektur von Gefälligkeitsdiagnosen erheblich, da jede Änderung nachvollziehbar dokumentiert werden muss.
Weitreichende Auswirkungen auf die Versicherbarkeit
Die Konsequenzen für die private Versicherbarkeit sind vielfältig und oft unterschätzt. Bei Abschluss einer privaten Berufsunfähigkeits- oder Krankenversicherung sind Antragsteller verpflichtet, ihre Krankenvorgeschichte vollständig offenzulegen. Dies betrifft in der Regel die zurückliegenden 5-10 Jahre, je nach Versicherungsgesellschaft und Versicherungsart.
Problematik bei der Risikoprüfung
Versicherungsunternehmen führen bei Antragstellung eine gründliche Risikoprüfung durch. Dabei werden alle angegebenen Vorerkrankungen sorgfältig analysiert und bewertet. Die Versicherer haben dabei keine Möglichkeit zu erkennen, ob eine dokumentierte Diagnose auf einer tatsächlichen Erkrankung oder einer Gefälligkeitskrankschreibung basiert. Sie müssen alle Angaben als faktisch behandeln.
Erschwerter Zugang zu Versicherungsschutz
Die dokumentierten Diagnosen können zu verschiedenen Einschränkungen führen:
• Risikozuschläge auf die normale Versicherungsprämie
• Ausschluss bestimmter Erkrankungen vom Versicherungsschutz
• Verkürzung der Leistungsdauer
• Komplette Ablehnung des Versicherungsantrags
• Einschränkungen bei der Wahl des Versicherungstarifs
Besondere Risiken im Leistungsfall
Noch gravierender können die Auswirkungen im Leistungsfall sein. Wenn eine Berufsunfähigkeits- oder Krankenversicherung in Anspruch genommen werden muss, prüft der Versicherer erneut die komplette Krankenhistorie. Stellt sich dabei heraus, dass bestimmte Vorerkrankungen beim Vertragsabschluss nicht angegeben
wurden – auch wenn diese nur auf Gefälligkeitskrankschreibungen basierten – kann dies zur Anfechtung des Versicherungsvertrags führen.
Rechtliche Dimension
Der Versicherer kann in solchen Fällen:
• Den Vertrag wegen arglistiger Täuschung anfechten
• Vom Vertrag zurücktreten
• Die Leistung im Versicherungsfall verweigern
• Bereits erbrachte Leistungen zurückfordern
Ein rechtsgültiges Urteil des OLG Braunschweig verdeutlicht: Wer beim Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung bewusst falsche Angaben macht, muss mit rechtlichen Konsequenzen seitens des Versicherers rechnen. Selbst nach einem Zeitraum von zehn Jahren kann die Versicherung die Auszahlung berechtigt verweigern.
Datenschutzrechtliche Aspekte der ePA
Die ePA bringt neue datenschutzrechtliche Herausforderungen mit sich:
• Versicherte haben zwar grundsätzlich die Hoheit über ihre Daten
• Das Löschen einzelner Einträge ist jedoch technisch und rechtlich stark
eingeschränkt
• Änderungen und Korrekturen müssen nachvollziehbar sein
• Auch gelöschte Daten bleiben im System archiviert
Zugriffsmöglichkeiten von Versicherungen
Private Versicherungen haben zwar keinen direkten Zugriff auf die ePA, können aber im Rahmen der Risikoprüfung oder im Leistungsfall:
• Eine Schweigepflichtentbindung für bestimmte Ärzte anfordern
• Auszüge aus der ePA anfordern
• Detaillierte Auskunft über dokumentierte Diagnosen verlangen
Gesellschaftliche Dimension und Systemrelevanz
Die Problematik der Gefälligkeitskrankschreibungen hat auch eine gesellschaftliche Dimension. Sie belastet nicht nur das Gesundheitssystem durch unnötige Dokumentation und Verwaltung, sondern führt auch zu steigenden Kosten im Versicherungswesen, die letztlich von allen Versicherten getragen werden müssen.
Präventive Maßnahmen und Handlungsempfehlungen
Für Versicherte und Versicherungsinteressenten
1. Grundsätzlicher Verzicht auf Gefälligkeitskrankschreibungen
2. Regelmäßige Überprüfung der eigenen Patientenakte
3. Dokumentation der tatsächlichen Krankenhistorie
4. Offene Kommunikation mit dem behandelnden Arzt
5. Frühzeitige rechtliche Beratung bei fehlerhaften Einträgen
Für Ärzte und medizinisches Personal
1. Strikte Einhaltung der Dokumentationspflicht
2. Sorgfältige Diagnosestellung
3. Aufklärung der Patienten über mögliche Folgen
4. Gewissenhafte Prüfung der Arbeitsunfähigkeit
Lösungsansätze für die Zukunft
Mit Blick auf die ePA ergeben sich neue Anforderungen:
Technische Lösungen
• Entwicklung transparenter Korrekturprozesse in der ePA
• Implementierung von Qualitätssicherungssystemen bei der Diagnoseerfassung
• Verbesserte Dokumentationsstandards
Organisatorische Maßnahmen
• Schulung des medizinischen Personals im Umgang mit der ePA
• Etablierung klarer Prozesse für die Diagnosestellung
• Regelmäßige Überprüfung der dokumentierten Diagnosen
Rechtliche Rahmenbedingungen
• Anpassung der Regularien für Korrekturen in der ePA
• Klare Definition der Zugriffsrechte
• Regelungen zum Umgang mit historischen Einträgen
Fazit
Die vermeintlich harmlose Gefälligkeitskrankschreibung kann sich als folgenschwerer Stolperstein für die private Absicherung erweisen. Die langfristigen Konsequenzen überwiegen dabei deutlich den kurzfristigen Nutzen. Eine verantwortungsvolle Handhabung von Krankmeldungen liegt daher im ureigenen Interesse aller Beteiligten.
Die Einführung der elektronischen Patientenakte macht es wichtiger denn je, auf die Korrektheit medizinischer Dokumentationen zu achten. Was früher möglicherweise als Kavaliersdelikt angesehen wurde, kann heute durch die digitale Vernetzung und dauerhafte Speicherung weitreichende Folgen haben. Eine verantwortungsvolle Handhabung von Krankschreibungen ist damit nicht nur eine Frage der Professionalität, sondern auch der persönlichen Zukunftssicherung in einer zunehmend digitalisierten Gesundheitslandschaft.